30 Jahre Friedliche Revolution

Wurzener Geschichts- und Altstadt-Verein und Museum Wurzen veranstalten eine ganz besondere Ausstellung ab 20. Oktober 2019

 

Frau Dr. Cordia Schlegelmilch ist Soziologin und professionelle Fotografin, die als „Chronistin“ der Nach-Wendezeit im Kreis Wurzen in der Zeit von August 1990 bis 1996 rd. 170 umfangreiche mehrstündige biografische Interviews mit Bewohnern der Stadt und des Kreises Wurzen durchgeführt und aufgenommen hat. In der Zeit Ende 1990, Anfang 1991 war bei den Wurzenern die Neugierde auf das Neue noch sehr stark ausgeprägt. Nie wieder war die Gesprächsbereitschaft so groß, nie wieder konnten Gespräche in dieser Offenheit stattfinden, wie in diesen ersten Monaten nach dem Mauerfall. Die Veränderungen in der Stadt wurden zeitgleich mit den Interviews auf mehr als 4.000 Fotografien dokumentiert. Die Fotografien der geplanten Ausstellung konzentrieren sich auf die ersten Nachwendejahre. Sie zeigen, wie sehr dies eine Zeit des provisorischen Übergangs zwischen dem „Nicht Mehr“ und dem „Noch Nicht“ war.  Im Oktober 2019, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, plant der Wurzener Geschichts- und Altstadtverein zusammen mit dem Kulturhistorischen Museum Wurzen eine Ausstellung, in der rd. 80 ausgewählte Fotografien von Cordia Schlegelmilch aus dieser Zeit zu sehen sind. Die Fotografien werden auf Aludibond montiert und sollen nach Ausstellungsende ohne Aufwand als Wanderausstellung in die Partnerstädte von Wurzen (Warstein, Barsinghausen), interessierte Forschungsinstitute oder andere Ausstellungs- institutionen transportiert werden. Zur Ausstellungseröffnung wird ein rd. 250 Seiten umfassender Textband im Sax-Verlag erscheinen, der zwar auch einige Fotografien enthält, jedoch im Wesentlichen die unterschiedlichen, ja oft sogar kontroversen Erzählungen der Wurzener aus dieser Zeit zu einer lebendigen, chronologisch angelegten Textcollage verbindet.

Die Publikation beinhaltet ergänzend wichtige historische und gesellschaftspolitische Daten und Besonderheiten des Kreises Wurzen. Es werden biografische Rückblicke in die Vergangenheit eingeflochten, um zu verstehen, wie einzelne Sichtweisen und Beurteilungen der Wendezeit entstanden und zu verstehen sind. Das Besondere an diesem Textband ist, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen aus ein und derselben Stadt über die dortigen Ereignisse der Wende und ihre Akteure sprechen. Der Leser kann sich anhand dieser Erzählungen sein ganz eigenes Bild mit seinen Widersprüchen machen. Die Publikation „Eine Stadt erzählt die Wende“ (Arbeitstitel) macht den Umgang mit dem historischen gesellschaftlichen Bruch und den eigenen bewegten Erlebnissen und Reaktionen wieder lebendig. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Nähe von Wurzen zu Leipzig, denn die Wurzener Bevölkerung spaltete sich in Gruppen, die in Leipzig demonstrierten und die, die bewusst in Wurzen agierten.

Der SAX-Verlag stellt eine eigene Ausgabe mit ISBN her und nimmt den Titel in das Verlagsprogramm auf, sodass das Buch im Buchhandel und über das Internet erhältlich ist.

Ausgangsbasis der Ausstellung und der Textcollage ist eine groß angelegte soziologische Studie von Dr. Cordia Schlegelmilch aus diesen Jahren (1990-1996). Anhand von biographischen Interviews und teilnehmender Beobachtung in einer ostdeutschen Kleinstadt wollte sie herauszufinden, wie sich Alltag, Biographien, Mentalitäten und das soziale Zusammenleben nach dem dramatischen gesellschaftlichen Wandel in Ostdeutschland verändern würden. Die Wurzen-Studie beabsichtigte zudem, die einzelbiographische Perspektive zu überschreiten und die unterschiedlichen individuellen Perspektiven auf das städtische Leben mit regionalhistorischen Daten und Quellen zu ergänzen und zu einem Gesamtbild zusammenzuführen. Nach einer Reise durch verschiedene Kreisstädte der DDR entschied sie sich für die Kreisstadt Wurzen in Sachsen, die eindrucksvoll traditionelle Strukturen einer sehr alten Industrie- und Bischofsstadt mit typischen Prägungen durch das DDR-System verband.

Ergebnis der Forschungsarbeiten waren zahlreiche Publikationen, die geleitet von Fragen der sog. Transformationsforschung und theoretischen Annahmen zu gesellschaftlichen Umbrüchen und ihren Folgen rein wissenschaftliche Texte waren, zu denen die Wurzener Bevölkerung bis auf wenige Ausnahmen keinen Zugang hat. Eine erste, komplett von Cordia Schlegelmilch selbst finanzierte Ausstellung 2001 in Wurzen endete mit einem Besucherrekord. Zwei Auflagen eines Bildbands im Sutton-Verlag (Wurzen, Reihe Wendezeiten, Erfurt 2006) sind ausverkauft. Das Buch ist vergriffen und wird nicht mehr aufgelegt. Dies zeigt das rege Interesse der Bevölkerung an den Arbeiten und Publikationen von Frau Dr. Schlegelmilch. Aber längst konnten nicht alle Fotografien gezeigt werden, sodass die geplante Ausstellung einen weiteren Blick auf das reichhaltige Bildmaterial liefert. Neu und ganz besonders im Mittelpunkt der Ausstellung soll ein Textband stehen, der ein tiefgreifendes, lebendiges Panorama der Wendezeit liefert, das die damaligen Ereignisse spannend und einfühlsam darstellen wird. In diesen Erzählungen sollen sich die Leser wiederfinden und die Geschichte noch einmal nacherleben können. Es entsteht ein einzigartiges Arsenal der Erinnerung von Fotografien und Texten als Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und ermutigt alle, die die Ausstellung sehen und das Buch lesen, die Zeitgeschichte als Beispiel für eine Welt im Umbruch zu betrachten.